Artenkenntnis und digitale Medien

Artenkenntnis und digitale Medien

Egal ob Lockdown oder nicht, sobald im Frühjahr die ersten wärmenden Sonnenstrahlen die Temperaturen in die Höhe treiben, treibt es auch die Menschen wieder raus in die Natur. Auch in den heimischen Naturschutzgebieten trifft man mangels Fernreise-Gelegenheiten mittlerweile wieder mehr Menschen, die sich an den Tieren und Pflanzen erfreuen.
Trotz der Renaissance des Wanderns und der Rückkehr aus den Wohnzimmern in die Natur, ist das allein noch keine Garantie, dass Tierarten, wie das Rebhuhn, nun erkannt werden. Du warst gerade unsicher, wie das Rebhuhn aussieht? Damit bist du nicht alleine.

Thomas Gerl, abgeordneterer Lehrer an der Biologiedidaktik der LMU, hat zusammen mit Kolleginnen in einer Studie zur Artenkenntnis bei Jugendlichen zeigen können, dass von Gymnasiasten der 6. Klasse nur noch wenige Arten sicher bestimmt werden können. Das Rebhuhn gehörte zu den unbekannten Arten. Die SZ hat am 05.04.21 zu der durchgeführten Studie hier einen Artikel veröffentlicht.
Das Ergebnis der Untersuchung verwundert nicht. Viele Jahre wurde die Artenkenntnis selbst im Biologieunterricht in der Schule stiefmütterlich behandelt, was vor allem unter Naturschutzaspekten kontraproduktiv ist. Auch außerhalb der Schule in den Medien wird häufig nur dann von einzelnen Arten und ihrer Bedeutung berichtet, wenn ganze Autobahnen oder Bahntrassen nicht oder nur mit deutlich erhöhtem Aufwand gebaut werden können. Dadurch werden wenige Individuen einzelner Arten auf negative Art und Weise instrumentalisiert. Den Juchtenkäfer erkennt auf Anhieb kaum jemand. Dessen Existenz wäre sehr vielen Menschen noch heute gänzlich unbekannt. Seinen großen Auftritt hatte der Käfer erst bei seinem Einfluss auf die Planungen von Stuttgart 21, die mehrere Millionen Mehrkosten verursachen. Bei der Diskussion um den Schutz einzelner Arten wird jedoch häufig außer Acht gelassen, dass beim Verschwinden einer Art in einem Ökosystem unweigerlich auch andere Arten direkt oder indirekt betroffen sind und dynamische Gleichgewichte aus der Balance kommen können. Diese Schäden sind viel schwerer zu beziffern. Letztlich geht es nicht mehr um einzelne Individuen, wie in vielen Zeitungsberichten auf Fotos gezeigt, sondern gleichzeitig um ganze Populationen mehrerer Arten, die in vielen Fällen ebenfalls unbekannt sind.

Es gibt noch weitere Effekte, die verstärken, dass Artenkenntnis weiter in den Hintergrund rückt: Vergleicht man die Lesekompetenz der 15-jährigen, nahm diese in den letzten zehn Jahren ab. Ebenso nimmt der produktive Wortschatz Jugendlicher zumindest gefühlt immer weiter ab. Sprache wird funktionaler und grammatikalisch vollständige Sätze werden weniger verwendet. Bezüglich der Artenkenntnis reicht es im täglichen Sprachgebrauch ebenfalls zu verkürzen und nur noch die grobe Form eines Lebewesens benennen zu können. Die systematische „Ordnung“ oder „Familie“ zu kennen, reicht da in der Regel. So wird die Zauneidechse als Eidechse benannt, die Stockente als Ente und das Kleine Mausohr als Fledermaus. Selbst bei formenreichen Stämmen, wie den Insekten (von denen es über 1 Million Arten gibt), reicht es im Alltag aus, nur wenige Arten vollständig zu unterscheiden. Dann wird die Honigbiene, eines der wichtigsten Nutztiere des Menschen, zwar (hoffentlich) als Biene erkannt, die anderen über 500 wildlebenden, heimischen Bienenarten Deutschlands, die meist ganz anders leben als die Honigbiene, werden jedoch nur noch zur „Wildbiene“ zusammengefasst. Das ist wenig verwunderlich, schließlich bekommt man bei einem Spaziergang heute nur noch selten mehrere Individuen verschiedener Arten gleichzeitig zu Gesicht. Eine sprachlich differenzierte Unterscheidung wird unnötig. Dabei kann das für einzelne Arten sehr gefährlich werden. Biologen wissen, dass man nur schützen kann, was man kennt:

Spruch Naturschutz

Die mangelnde Artenkenntnis in der Gesellschaft verstärkt den Artenschwund, weil das Verschwinden nicht oder erst viel zu spät entdeckt wird. Wer den Rasen und dessen Grasarten nur als grüne Fläche erkennt, wird sich erst an dessen Fehlen stören, wenn der Nachbar die Fläche durch einen Steingarten ersetzt. Selbst manchem Naturliebhaber wird erst auffallen, dass Blühwiese nicht gleich Blühwiese ist, wenn sich beim Nachbarn viel mehr Insekten tummeln als im eigenen Garten. Bei der Auswahl von Saatgutmischungen bringt es für den ökologischen Wert tatsächlich nur wenig, eine Handvoll heimischer Arten auszusäen. Ökologisch wertvolles Saatgut sollte daher immer Angaben und Empfehlungen zu den Pflanzen-Arten und den optimalen Aussaat-Regionen enthalten, um den dort heimischen Insekten als Nahrung und vor allem auch als Lebensraum dienen zu können.

Die Artenkenntnis ist also ein wichtiger Schlüsselaspekt zum Schutz der Natur. Wie schafft man es, dass Jugendliche und Erwachsene wieder Lust auf das Erkennen von Arten bekommen? Schaut man in die Kinderzimmer, kann das ohne digitale Endgeräte ganz offensichtlich nicht mehr gelingen. Schließlich sammeln Jugendliche und auch viele junge Erwachsene – wenn sie denn rausgehen – anstatt Käfern und Schmetterlingen in Glaskästen mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit digitale Wesen bei Pokemon Go. Die Namen der Pokemons werden anschließend ebenso gemerkt und wieder erinnert, wie es früher bei den heimischen Arten der Fall war. Artenkenntnis hat also keinesfalls ausgedient, sie hat sich nur aus der Natur auf andere Bereiche verlagert. Am Erinnerungsvermögen und der Speicherkapazität des Gehirns liegt der Verlust der Artenkenntnis ganz sicher nicht. Auch die Fähigkeit des kriteriengeleiteten Vergleichens ist bei Schülern nach wie vor ausgeprägt und liegt in der Natur des Menschen. In meinem Unterricht hatte ich häufig mit Schülern zu tun, die die Marken von Motorrädern, Traktoren oder Autos auf mehrere hundert Meter Entfernung zweifelsfrei bestimmen können. Bei Vögeln, Bäumen und Blumen scheiterten sie aber bereits bei sehr häufigen Arten, wie Amsel oder Star. Auch bei Studierenden gibt es da kaum Unterschiede. Ich selbst habe in meinem Biologie-Studium keine Vogelart bestimmen müssen. Meine Artenkenntnis habe ich bereits während meiner Grundschulzeit zusammen mit meiner Schwester am Futterhäuschen mit einem Bilderbuch aufgebaut. Was tatsächlich fehlt, ist also in jungen Jahren lediglich das Training und die Literatur dazu. Die Lebewesen um uns herum sind derzeit schlichtweg nicht mehr konkurrenzfähig genug, weil sie für Jugendliche zu wenig in Werbungen, auf Instagram oder in Youtube- und TikTok-Videos auftauchen. Um Artenkenntnis wieder aufzubauen, müssen die Lebewesen also dringend auch in den Smartphones ankommen.

Dabei bieten die Apps zweier Forschungsprojekte der TU Ilmenau bzw. der TU Chemnitz sehr vielversprechende Möglichkeiten zur Abhilfe. Mit beiden Geräten können unbekannte Pflanzen, bzw. Vögel einfach aufgenommen werden und im Gerät abgespeichert werden. Beide Apps greifen nach dem Upload der Bilder auf eine Datenbank zu, die durch maschinelles Lernen („Künstliche Intelligenz“) zunehmend besser wird. Flora Incognita kann dazu Bildmuster aus Fotos zum Erkennen von Pflanzenarten nutzen, BirdNet nutzt entsprechende Klangmuster aus Audioaufnahmen zum Erkennen von Vogelarten. Nutzende benötigen dadurch keinerlei Vorkenntnisse oder Fachbegriffe für eine mühsame Bestimmung der Arten. In Sekundenschnelle können damit Arten sicher bestimmt und benannt werden. In beiden Apps werden die Beobachtungen anschließend gespeichert und können jederzeit wieder mit anderen Beobachtungen abgeglichen werden. So entsteht schnell eine beeindruckende Sammlung der häufigsten Tier- und Pflanzenarten im nächsten Umfeld.
Mittlerweile sind die beiden Apps meine ständigen Begleiter beim Spazierengehen geworden. In meinem digitalen Sammelalbum habe ich bereits 120 Pflanzen gesammelt und bereits 20 verschiedene Vogelstimmen:

Hier geht es zu den beiden Apps:

Flora Incognita

BirdNet

Ganz sicher werden in diesem Frühjahr noch einige neue Arten in meine eigene Datenbank aufgenommen! Vielleicht finden sich ja noch Nachahmer zum Abgleich der Entdeckungen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert